Wilhelm Linckes Zeugnisse

Ereignisse im Hauptquartier II./RIR212, nachdem der linke Unterarm von Major Lincke durch ein Schrapnell zerrissen wurde, aus der Sicht von Oberltn. Lincke selbst (Regimentsgeschichte RIR212, S. 409-421):

[…] Nur dem schnellen Zugriff des Adjudanten, Ltn. Bansee, und des Burschen Simon Wege gelang noch das Abbinden des Armes, dessen Hauptschlagader zerrissen war.

Inzwischen war unser eigenes Maschinengewehrfeuer verstummt, und plötzlich erschienen die Tommys, die den beim schwer verwundeten Kommandeur knienden Adjudanten Ltn. Bansee und Burschen Wege die Bajonette auf den Rücken setzten. Da beide im Augenblick des Zuspringens ihre Karabiner zur Erde geworfen hatten, um dem Kommandeur zu helfen, konnten sie nun nicht an die Waffen. Im wahrsten Sinne des Wortes „zähneknirschend“ mussten sie der Aufforderung des Gegners nachkommen und sich vom Boden erheben. Beide sollten sofort zurückgehen. Auf die Bitte des Kommandeurs aber beließ man den Burschen bei ihm, während Ltn. Bansee seinem Kommandeur, der so manchen schweren Kampf mit ihm zusammen erlebt hatte, die Hand drückte und sagte: „Herr Major, die Kerle sollen mich doch nicht bekommen, ich reiße doch noch nach unserer Linie hin aus“.

„Nun, dann melden Sie dem Divisionskommandeur, dass 212 seine Pflicht getan hat und grüßen Sie Frau und Kinder.“

Das war der Abschied, dann verschwand Ltn. Bansee. Wenige Sekunden darauf setzte ein englisches Maschinengewehr mit Feuer ein.

Zweifellos hat Ltn. Bansee sein Versprechen wahr und den Versuch gemacht, nach unserer Linie zu durchzubrechen, denn wenige Tage später wurde er im Gefangenenlazarett hinter der englischen Front mit 14 Schüssen und einer Gaspflegmone hoffnungslos eingeliefert. Er starb am Tage darauf. Ehre dem Andenken dieses Tapferen!

Doch zurück zur Schilderung der Gefechtsvorgänge. Hatten sich die Tommys der ersten Angriffswelle nach kurzer Ausplünderung des schwer verwundeten Kommandeurs und des bei ihm sitzenden Burschen – sogar ein Achselstück wurde mit raschem Messerschnitt und dem Zuruf „Souvenir“ abgetrennt – unmittelbar hinter ihrem eigenen Deckungsfeuer […] wieder in Richtung unserer rückwärtigen Stellung in Bewegung gesetzt, so folgte nun kurz hintereinander eine zweite und dritte dünne Welle und jedesmal, wenn die flache Helme der Tommys am Höhenrande auftauchten und wir beide (der Kommandeur und der bei ihm sitzende Bursche) für die Tommys sichtbar wurden, setzte der Beschuss mit leichten Maschinengewehren ein mitten aus der Bewegung heraus. Gottlob aber ohne Erfolg!

Mit der dritten Welle erschien auch der feindliche Kompagnieführer, der sich kurz beim Kommandeur zu orientieren suchte und besonders die Frage stellte: „Wann kommt der Gegenangriff?“ Natürlich wurde jede Auskunft verweigert.

Bei langsam einsetzendem Dauerregen vergingen qualvolle Stunden. Aus den auf der Höhe einschlagenden Granaten aller Kaliber und ihrer Schussrichtung konnte man deutlich Rückschlüsse auf die Gefechtslage ziehen. Schlug unser Feuere ein, dann war entweder ein weiteres Vordringen der Engländer im Gange oder ein Gegenstoß unserseits. Schlug englisches Feuer ein, bereitete sich allem Anschein nach ein Angriff oder ein Rückschlag bei den Engländern vor.

Verschiedene während des Tages wiederholte Aufforderungen seitens aus dem Trichter an uns herankriechender Tommys, in Richtung der englischen rückwärtigen Linie zurückzugehen, wurden abgelehnt unter Hinweis auf die schwere Verwundung. Es geschah dieses in der Hoffnung, dass doch noch ein deutscher Gegenstoß durchdringen und Rettung vor dem drohenden Schicksal, der Gefangenschaft, bringen möge.

Ein rührendes Zeichen deutscher Treue ist auch das Verhalten des Burschen Simon Wege. Zwei Friedensjahre, davon das letzte Jahr als Pferdebursche, und drei Kriegsjahre verbanden ihn mit seinem Kommandeur. Jetzt hielt er, der unverwundet war, treu bei ihm aus, wo es zweifellos ein Leichtes für ihn gewesen wäre, sich in Deckung zu retten. Er weigerte sich auch wiederholt ganz energisch, die Abbindung des Oberarmes, die mit dem Band der Gasmaske hatte geschehen müssen, aufzuschneiden, wie der Kommandeur es forderte.

Schon hofften beide, bei herannahender Dämmerung, sich doch noch kriechend in die deutschen Linien retten zu können, als plötzlich der vorerwähnte britische Kompagnieführer mit mehreren Leuten, darunter einem Sanitäter, unter dem Schutz der Dunkelheit auftauchten und nach Prüfung des Verbandes kurzerhand beide Deutschen in ihren am feindlichen Hange gelegenen Trichter zogen. Hier hockte eine Gruppe mit einem Maschinengewehr auf ein paar Stufen, die allem Anschein nach in einen Unterstand führten. Aus dem Gespräch der Tommys ergab sich, daß die Randlinie nun die vorderste Linie der Engländer sei, daß sie selbst zur 1. austr. Div. gehörten und sehr stolz darauf waren, in die Stellung der Garde eingedrungen zu sein und das als Stoßregiment bekannte Regt. 212 überwältigt zu haben. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß gesagt werden, daß diese stämmigen Australier sich durchaus kameradschaftlich benahmen. Sie boten aus ihrem reichlichen Mundvorrat köstliches Weißbrot, Schokolade und Konserven an, auch Zigaretten. Als wir dann beim Aufleuchten einer elektrischen Taschenlampe erkannten, daß es sich ausgerechnet bei unserer Deckung um den Eingang zu dem verschütteten K.T.K. handelte, gelang es uns sogar, noch aus dem vordersten Teil des Raumes die Mäntel sowie eine Zigarrenkiste und eine Flasche Kirschwasser, die beide noch unbenutzt auf dem Tische standen, zu erlangen. Auch diese Beute wurde kameradschaftlich geteilt, wobei die Australier nicht versäumten, vorab die leeren Zigarrentaschen des Kommandeurs sowie des Burschen zu füllen.

Immer wieder erschien der Kompagnieführer der Australier, um nach seinen Leuten zu sehen. Bei dieser Gelegenheit brachte er nochmals einen Sanitäter mit, der den Verband erneut zu prüfen hatte. Er sprach kurz von der Einnahme der Stellung am K.T.K., in dessen Nähe sich eine große Kiesgrube befand, die sein Angriffsziel für den Tag gewesen sei. Dort hätten unsere schweren Maschinengewehre verzweifelten Widerstand geleistet, wobei er eine Menge Leute verloren hätte. Schließlich hätte nur noch ein Gewehr gefeuert, bedient von einem Offizier (Ltn. Arndt, 2. M.G.K.). Er selbst sei schließlich von der Seite an dieses Maschinengewehr herangekrochen mit der Pistole in der Hand und habe den Offizier zur übergabe aufgefordert. Ohne das Schießen zu unterbrechen, hätte der Offizier mit den Worten: „No surrender“ – „Kein Ergeben" den Kopf geschüttelt, worauf er ihm leider habe durch den Kopf schießen müssen. Er fügte hinzu: „Ein tapferer Mann“ Nichts kann das Andenken unseres Kameraden, Ltn. Arndt, mehr ehren, als dieser Ausruf aus dem Munde eines vornehmen Gegners.

Ein leicht am Fuß verwundeter Australier, lediglich bewaffnet mit einer Handgranate, deren Wirkung er mir lächelnd erklärte, erhielt den Befehl, gemeinsam mit dem Burschen mich zurückzutransportieren. Halb getragen, halb gezogen wanderten wir nun durch unser Angriffsgelände, durch das Zwischenfeld und schließlich durch die englischen Linien, immer begleitet von dem Störungsfeuer der deutschen Artillerie. Interessante Beobachtungen über den Betrieb in den feindlichen Linien, ja über die Angriffsvorbereitungen konnten dabei gemacht werden, denn mit vielen Unterbrechungen wegen der Erschöpfung und dem Blutverlust und unter häufiger Deckungsnahme mit Rücksicht auf das deutsche Artilleriefeuer ging der Rückweg nur sehr, sehr langsam vor sich. Zunächst fiel auf, daß die Engländer glänzende telephonische Verbindungen hatten. Vielfach stießen wir auf frisch gelegte Telephonkabel, die mit ihrer roten Isolierung deutlich als solche erkennbar waren und mindestens zwei=, wenn nicht dreifach für eine Verbindung gelegt waren.

Als wir unsere eigene vorderste Trichterlinie überschritten, sahen wir auch, daß von den englischen Stellungen her anscheinend bei den Angriffsvorbereitungen weiße Bänder vielfach gelegt waren, an denen entlang sich die englischen Sturmtruppen auf ihre Ziele vorgetastet hatten. Im Zwischengelände passierten wir einen vereinzelt stehenden Betonklotz, wo wir durch englischen Zuruf aufgefordert wurden, näherzukommen. Auch der begleitende Tommy zeigte wenig Lust, dieser Aufforderung, die uns nur unnötig aufhielt, nachzukommen. Schließlich mußten wir aber der wiederholten energischen Aufforderung Folge leisten. Wir befanden uns auf dem Truppenverbandsplatz des englischen Sturmbataillons und wurden von dem neugierigen Stabsarzt über Einzelheiten des Kampfes ausgefragt. Wohl ihm, wenn er nichtalles geglaubt hat, was wir ihm erzählten. Jedenfalls zeigte sich dieser Stabsarzt (Kapitänsrang) sehr unterrichtet und erfreut, den verwundeten Major, dessen Gefangennahme schon rückwärts gemeldet war, zu sehen.

Der weitere Weg durch die feindlichen Linien zeigte überall schanzende Engländer, die tief gegliedert sich eingruben. Hinter Betonklötzen standen Meldereiter und Meldetrupps mit Flaggen und Blinkerlaternen ausgerüstet.

Nach kurzer Zeit erreichten wir die erste deutsche Linie, die der Garde in dem vorangegangenen Kampf entrissen war. Sie bestand aus auf dem sumpfigen Gelände aufgestellten Betonklötzen, die Raum für je eine Gruppe boten, die aber allem Anschein nach noch nicht durchweg alle fertiggestellt waren. Als wieder einmal schärferes Störungsfeuer einsetzte, suchten wir Schutz in einem dieser Betonklötze. Hier ward mir der grausigste Anblick des Krieges zuteil. An dem Betonklotz lehnten eine ganze Reihe Stangen, die wohl zum Bauen benötigt wurden, und oben an den Spitzen dieser wohl vier Meter hohen Stangen hing mit den Beinen gen Himmel die Leiche eines deutschen Soldaten ohne Kopf und mit aufgerissenem Oberkörper. Eine feindliche Granate muß sie dorthin gewirbelt haben. Im Schutze des Einganges lag ein schwer verwundeter Angehöriger der 8. Komp., einer der Melder des Bataillonsstabes, die mit dem Ordonnanzoffizier des Bataillons der rechten Flügelkompagnie beim Sturm mit Brieftauben zur Meldung nach rückwärts zugeteilt gewesen waren. Ich kniete bei dem Kameraden nieder, der offensichtlich in den letzten Zügen lag und flehentlich um Wasser bat. Nie werde ich sein freudig aufstrahlendes Gesicht vergessen — leider ist
der Name dieses Braven mir entfallen —, glaubte er doch, daß wir nun doch noch die Schlacht gewonnen hätten, als er seinen Kommandeur wiedersah. Ich gab ihm den letzten Rest aus meiner Feldflasche zur Labe und konnte ihm die Hand halten, als er sich dann nach wenigen Sekunden zur letzten Ruhe streckte

Als wir dann das Innere des Betonklotzes aufsuchten, wurde uns bereitwilligst in der fürchterlichen Enge Platz gemacht. Auch hier bot man uns alles Erdenkliche zur Erfrischung an und deutlich konnte ich den Gesprächen der einfachen australischen Soldaten entnehmen, wie sie überrascht und gerührt waren von meinem doch so selbstverständlichen Benehmen gegen diesen sterbenden Kameraden. Sicherlich hatte die eigene Propaganda ihnen ein ganz anderes Bild der feindlichen Offiziere übermittelt.

Der weitere Rückweg gestaltete sich etwas leichter, waren doch englische Arbeitskolonnen eifrig beschäftigt, einen schon weit vorgedrungenen Knüppeldamm durch das sumpfige Gelände noch weiter auf die erste Stellung vorzulegen. Hier sahen wir zunächst eine Feldartilleriemunitionskolonne, die in Reihenkolonnen den Knüppeldamm benutzten, auf Maultieren je sechs Geschosse nach vorne befördernd; also waren auch Infanteriebegleitbatterien bis in die vordersten Linien mit vorgezogen.

Ein feindliches Reservebataillon, das uns bald darauf begegnete, zwang uns, in den tiefen Schlamm seitwärts des Knüppeldammes zu treten. Schweigend zog die Kolonne an uns vorbei. Wir mußten wohl in unseren kot= und blutbeschmutzten Uniformen einen sehr nieder¬ gedrückten Eindruck gemacht haben, denn aus der Marschkolonne heraus ertönte halblaut der Zuruf: „Cheer up, Fritz!“ (Kopf hoch, Fritz!“) Es war der einzige Zuruf aus der langen Kolonne, und der war sicherlich gut gemeint. Wie ich später erfuhr, nannten die Engländer alle deutschen Soldaten „Fritz“, im wohltuenden Gegensatz zu dem Franzosen, der bekanntlich uns mit dem Schimpfnamen „Boches“ belegte und auch heute noch belegt.

Eine längere Pause mußte bei einem englischen Großverbandsplatz, der in Anlehnung an einen alten deutschen Befehlsstand errichtet war, eingelegt werden. Haufen von Decken lagen im Freien und Hunderte und aber Hunderte von Verwundeten auf Bahren. Zunächst erschien ein englischer Sanitäter hemdsärmelig, der sich anstatt mit der Untersuchung des Verbandes mit der Ausplünderung von uns beiden befaßte. Nichts entging seinem Zugriff, weder der noch vorhandene Kompaß, die Armbanduhr noch das bare Geld aus der Geldtasche, selbst die Knöpfe am Waffenrock fielen diesem Unmenschen zur Beute, ohne daß wir uns wehren konnten

Mein energisches, lautes Protestieren in Englisch brachte aber wenigstens den Arzt nach einiger Zeit zu uns, worauf bei der Annäherung desselben der Sanitäter verschwand. Zwar hatte der Arzt für meine Beschwerde nur ein Achselzucken mit dem Worte: „Souvenir“ aber er bemühte sich doch ernsthaft um uns und gab mir aus seiner Feldflasche eine stark nach Kampfer schmeckende Flüssigkeit zu trinken, die mich sehr bald befähigte, den Rückweg fortzusetzen. Schließlich landeten wir wieder vor einem großen alten deutschen Befehlsstand, der, wie sich später herausstellte, Befehlsstelle des Divisionskomandeurs der 1. austr. Div. war.


Vor dem Unterstand wurden wir angehalten von einem Ordonnanzoffizier, der sich in wenig schöner Weise meines Burschen annahm und trotz allen Bittens anordnete, daß derselbe wieder nach vorne zum Zurücktragen englischer Verwundeter sich zu begeben hatte. Ich habe Simon Wege erst nach Rückkehr aus der Gefangenschaft in seiner lippischen Heimat wiedergesehen.

Ich selbst wurde dem Divisionskommandeur, dem ich bereits angekündigt war, vorgeführt. Vor mir stand ein junger, wenig über 30 Jahre alter, lebhafter und tadellos deutsch mit berlinischem Einschlag sprechender General, der sofort mit einer Vernehmung beginnen wollte. Als ich ihm sofort erklärte, daß er von mir als altem Soldaten nicht verlangen könne, daß ich irgendwelche verfängliche Fragen beantworte, sagte er: „Nun, dann werde ich Sie nichts fragen, was Sie nicht beantworten dürfen, aber Sie werden doch wohl ein Unterhalten mit mir über allgemeine Fragen nicht ablehnen“. Eine tiefe Ohnmacht enthob mich der Antwort. Als ich erwachte, fand ich englische Offiziere um mich bemüht, die vor allem versuchten, mir Whisky zwischen die fest geschlossenen Zähne zu gießen. Als ich mich aufrichtete, boten sie mir eine Tasse Tee mit etwas Keks an, die ich dankbar annahm.

Die Unterhaltung, die ich dann mit diesem hohen Offizier über eine Stunde führte, ist für mich eine der interessantesten Erinnerungen aus dem Kriege. Ihr Inhalt, verbunden mit dem, was ich in und hinter der englischen Front gesehen hatte und weiterhin noch zu sehen bekam, ließen zum ersten Male ernsthafte Zweifel in mir aufsteigen, ob wir gegen diesen ungeheuren Aufwand an Menschen, Material und Organisation wohl würden den Krieg zu einem glücklichen Ende führen können. Ich hatte Gelegenheit, den ganzen Verkehr des Divisionskommandeurs mit seinem Stabe, der aus= und einging, Meldungen und Befehle brachte und erhielt, während unserer Unterredung zu beobachten und ich muß zugeben, daß sich der ganze Dienstverkehr, soweit ich diesen beobachten und verfolgen konnte, in mustergültiger Weise vollzog. Auf eine entsprechende Frage von mir erklärte der Divisionskommandeur, er habe in Heidelberg und Berlin studiert und dort sein gutes Deutsch gelernt. Er sei australischer Rechtsanwalt und schon vor dem Kriege Kapitän in der australischen Miliz gewesen. Bei Kriegsausbruch habe er sich in England aufgehalten und zunächst zur Kitchener Army gemeldet, wo er ein schönes Avancement durchgemacht habe, das ihn schließlich an die Spitze der 1. und, wie er mit Stolz hinzusetzte, besten australischen Division als Kommandeur brachte. Er fragte mich, wie ich von seinen Leuten vorne behandelt worden sei. Ich konnte ihm wahrheitsgemäß neben der Ausplünderung manches Günstige berichten, worauf er wiederum hervorhob, daß seine Leute zwar, solange gekämpft würde, sehr rauh seien, aber andererseits seien sie auch wieder sehr gutmütig, wenn sie auf einen tapferen Gegner stießen, den sie achten könnten. Ihm war völlig schleierhaft, wie wir gegen das Menschen= und tote Material, das die ganze Welt gegen uns aufgehäuft hätte, den Krieg gewinnen wollten. Er drückte sich sehr drastisch aus, indem er sagte: „Das Kanonenfutter der ganzen Welt steht uns zur Verfügung", womit er wohl meinte, daß der Feindbund unerschöpfliche Menschenreserven hätte, während auf der anderen Seite, wie er sagte und wie der heutige Schlachttag gezeigt hatte, des Kaisers beste Soldaten, sei es durch Tod, sei es durch Verwundung oder Gefangenschaft für die Weiterführung des Krieges ausfielen. Seine Frage: „Wann bricht denn bei Euch Revolution aus?“ konnte ich damals noch mit berechtigtem Stolze parieren, indem ich sagte: „General, vergessen Sie nicht, daß wir Deutsche, keine Russen sind.

Schließlich kamen wir unter anderem auch auf den Angriff des hinter uns liegenden Tages zu sprechen. Er erklärte, daß sie nach den Lehren aus den Frühjahrs= und Sommerkämpfen, in denen ja bekanntlich unser Gegenstoß uns große Erfolge gebracht hätte, dazu übergegangen seien, Angriff mit begrenzten Zielen vorzunehmen. Grundsätzlich wurden diese Ziele so weit gesteckt, wie das Deckungsfeuer der leichten Artillerie reiche. So hätten sie am heutigen Tage die Höhenlinie am Wegekreuz Brodseinde und südlich gewonnen. Ihre Artillerie stände, wie ich wohl beim Rückweg sehen würde, in vielen Gliedern hintereinander Rad an Rad und jedes Geschütz hätte drei Rohre zur Verfügung, so daß, selbst wenn nur Schönheitsfehler an einem feuernden Rohre aufträten, der Batteriechef zweifachen Wechsel möglich hätte.

Das war eine schmerzliche Erkenntnis für mich, denn ich wußte, welche Schwierigkeiten unsere Artillerie schon damals hatte, um mit den ausgeschossenen Rohren Anforderungen nach Präzisionsschießen nachkommen zu können. Schließlich zeigte mir der Divisionskommandeur an einem kartenbedeckten Tisch die gegenseitige Stellung im Bereiche seiner und der Nachbardivision, die mit farbigen Fähnchen abgesteckt waren. Er behauptete, daß der englische Angriff 30 englische Meilen weit angesetzt gewesen sei, und ich konnte an dem Verlauf der Linien genau feststellen, daß überall dort, wo der Angriff des Regts. 212 gewirkt hatte — und das war gerade der 1. austr. Div. gegenüber —, der Gegner am wenigsten tief in unsere Linie eingedrungen war.

Der weitere Abtransport nach rückwärts vollzog sich dann verhältnismäß schnell, erst auf einer Feldbahn, dann mit Autokrankenwagen. Mit Rücksicht darauf, daß ich nur eine Verwundung des linken Armes davongetragen hatte, benutzte ich den Sitz neben dem Autolenker und hatte so bei der nächtlichen Rückfahrt nach Ypern, wohin die Fahrt ging, Gelegenheit, das Verhalten der englischen Nachschubkolonnen zu beobachten. Überall in den Querwegen standen wie in London Feldpolizisten, und der Fahrer bestätigte mir auch, daß man den größten Teil der Londoner Verkehrspolizisten einfach in Uniform gesteckt habe und als Feldpolizisten verwende. Jeder dieser Verkehrspolizisten führte einen elektrisch beleuchteten Befehlsstab bei sich, mit dem er Lichtsignale gab. Lautlos, ohne jedes Rufen und Schreien funktionierte der riesenhafte Verkehr. Der Anordnung der Feldpolizisten mußten sich einzelne Leute genau so gut fügen wie ganze Truppenteile, die der Front oder den rückwärtigen Etappen zustrebten.

Die erste eingehende ärztliche Untersuchung fand in dem Feldlazarett in dem zerschossenen Ypern statt. Vollkommen ein Trümmerhaufen, aber tadellos aufgeräumte Straßen, in ihnen überall vor Kellereingängen Krankenauto an Krankenauto in langen Kolonnen. In einem solchen unterirdischen Feldlazarett wurde mein Verband erneut geprüft, und ich erhielt wiederum etwas Tee mit Keks und genau wie im deutschen Feldlazarett die nötige am Waffenrock befestigte schriftliche Anweisung, aus der ich entnahm, daß ich operiert werden müsse Die Behandlung hatte hier bemerkenswerterweise ein Stabsarzt der amerikanischen Armee, der sehr gut deutsch sprach. Er erklärte mir auf meine Frage, daß die Amerikaner bereits in allen Dienststellen der verbündeten Heere abkommandierte amerikanische Offiziere hätten, die gewissermaßen als Vorkommandos den Krieg praktisch erlernen müßten, um dann die eintreffenden amerikanischen Truppen mit ihren Kenntnissen zu empfangen. Gegen Morgen dieser langen Nacht landete ich in einem englischen Offizierslazarett, Barackenbauten, die tadellos sauber und behaglich ausgestattet waren, in denen Bett an Bett englische verwundete Offiziere lagen.

Wie später überall, so zeigte sich auch hier, daß ein Teil der Engländer, verhetzt durch die Kriegspropaganda, entweder überhaupt keine Notiz nahmen von den Deutschen oder sie aber verächtlich behandelten Der andere Teil benahm sich aber durchaus kameradschaftlich und achtete in dem verwundeten Feind den tapferen Gegner.

Gegen Morgen wurde ich auf meiner Bahre in den sogenannten Präparationsraum, d. h. Vorbereitungsraum gebracht, eine große, lange Baracke, in der wohl 100 und mehr zu operierende Soldaten, Freund und Feind, bunt durcheinander auf den Bahren lagen. Da zunächst nur Engländer zur Operation geholt wurden, die vorhandenen Deutschen aber immer stehenblieben, hatte ich Gelegenheit genug, die Handhabung in diesem Feldlazarett kennenzulernen. Ein aufsichtsführender Sanitätssergeant gab den Krankenträgern die Weisung. Jedesmal, wenn dieselben absichtlich oder aus Versehen eine Bahre mit einem Deutschen ergreifen wollten, rief er sie an und befahl ihnen, Engländer zu nehmen. Wir Deutschen hatten uns mittlerweile durch Zurufe verständigt, und als dann gegen Mittag ein englischer Arzt im Operationskittel in der Tür erschien, bat ich ihn an meine Bahre und beschwerte mich energisch über die Art der Handhabung. Er rief den Sergeanten an, ohne Rücksicht auf die Nationalität die Verwundeten nach ihrer Einlieferung auch zur Operation abzutransportieren. Der Sergeant aber schlug sein altes Verfahren wieder ein, als der Stabsarzt kaum den Rücken gedreht hatte. Deutsche Soldaten mit schwersten Knochenschüssen lagen schon seit dem Morgen, und ich konnte ihren Abtransport zur Operation nicht erreichen.

Gegen 4 Uhr nachms. erschien erneut der Stabsarzt wieder im Vorbereitungsraum. Diesmal schlug meine erneute Beschwerde durch, der Sergeant erhielt eine furchtbare „Zigarre“ verpaßt, und der Stabsarzt blieb solange neben mir, bis der letzte Soldat und dann ich selbst in den Operationsraum gebracht waren.

Der Operationsraum bestand aus einer riesengroßen Baracke, in der drei Reihen Tische aufgestellt waren. An jedem Tisch arbeitete im Schein großer Acetylenlampen der operierende Arzt mit einem Helfer und einer Schwester. Stets lag ein Verwundeter auf dem Operationstisch, während der nächste auf seiner Bahre daneben auf das Weitere harrte. Das war kein schöner Anblick. Zwischen den in der Narkose Befindlichen, die in allen Sprachen der Welt teilweise durcheinander phantasierten, schrien und sangen, arbeiteten die Arzte, die Schwestern und die Sanitäter!


Schließlich wurde der Platz für mich frei, und ich wurde von der Bahre auf den Operationstisch gehoben. Zwischendurch rauchte der Arzt versehen mit seinen Gummihandschuhen, schnell eine Zigarette, während die Schwester mich für die Operation fertigmachte. Schon hatte man mir die Gasmaske aufgestülpt, um mich zu betäuben, als der Arzt sie wegriß und auf englisch die Frage an mich stellte: „Warum bewerfen die deutschen Flieger die englischen Feldlazarette mit Bomben?“ Meine Antwort, ein englischer Armeefluch, veranlaßte den Arzt zum wortlosen Wiederaufstülpen der Maske.

Als ich wieder erwachte, strich kühle, regnerische Abendluft über mich hin, und an dem Schwanken merkte ich, daß ich in der Dunkelheit getragen wurde. Auf meine halb gestammelte Bitte nach einer Zigarette fetzte man die Bahre ab. Ein Tommy gab mir eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. Dann wurde ich in ein noch völlig leerstehendes Zelt gebracht und in ein Bett gelegt. Erneut sank ich in eine Ohnmacht, aus der ich erst erwachte, als die abgebrannte Zigarette mir die Lippen versengte. Ich befand mich völlig allein, und auf mein Rufen erschien niemand. Im Laufe der Nacht wurden dann mehrere deutsche Offiziere eingeliefert. Erst am anderen Morgen, als sich ein Arzt sehen ließ, erhielten wir auf unsere Beschwerde Wartung und Verpflegung.

Noch am selben Tage wurde ich dann in ein Gefangenenlazarett abtransportiert. Es lag in der Nähe von Poperinghe in Zelten neben einem schloßartigen, von einem Drahtzaun umschlossenen und von einem Posten bewachten Gebäude. Hier erfolgte dann die Verteilung in die verschiedenen Zelte, wobei die Mannschaften streng von den Offizieren gesondert wurden, ein Grundsatz, den die Engländer auch in ihren Gefangenenlagern begreiflicherweise streng durchführten.

Es würde zu weit führen, wollte ich die Behandlung in den Feld¬ und Heimatlazaretten, den Transport über den Kanal und in die Eisenbahn näher behandeln. überall dasselbe Bild. Die alten gedienten Soldaten, zu denen ich diejenigen mitrechne, die schon an der Front ge¬ kämpft hatten, benahmen sich durchaus würdig und anständig gegen uns. Sie wußten, daß das Schicksal, das wir erlitten hatten, jedem von ihnen morgen auch blühen könnte. Dagegen zeichneten sich häufig junge Soldaten, gleichgültig ob Offiziere oder Mannschaften, die in der Etappe saßen, durch hämische und ungehörige Behandlung aus. Bei ihnen merkte man deutlich den Einfluß der feindlichen Greuel= und Kriegspropaganda. Ich hatte ja auch die beste Gelegenheit, diese zu verfolgen, weil wir soviel englische Zeitungen zum Lesen bekamen, wie wir bezahlen konnten.

Bemerkenswert ist noch folgendes:
In dem Feldlazarett Poperinghe behandelte eine neuseeländische, also australische Schwester uns gefangenen Offiziere besonders schlecht. Jede kleinste Bitte schlug sie ab, riß mit roher Hand die angetrockneten Verbände von den Wunden und zeigte in jeder Weise, daß sie nur widerwillig den Dienst bei uns gefangenen deutschen Offizieren versah. Als ich sie einmal fragte, warum sie sich so ungehörig benehme, erwiderte sie mir: „Mein Bruder ist als englischer Flieger in deutscher Gefangenschaft und wird in Deutschland auch so schlecht behandelt.“

Eine recht energische Beschwerde meinerseits bei dem englischen Lazarettkommandeur, einem Oberstabsarzt, brachte Wandel, die Schwester wurde abgelöst. Es muß allerdings hervorgehoben werden, daß wenige Tage vorher dieses Feldlazarett mit deutschen Fliegerbomben belegt war und daß dabei u. a. auch verschiedene Schwestern getötet und verwundet wurden. Diese Tatsache wurde uns bei jeder Gelegenheit vorgehalten. Zum Glück stellte ich bei Reinigung des Zeltes, als die eine Zeltwand hinter meinem Kopf hochgehoben wurde, fest, daß wir unmittelbar neben einem Bahnstrang lagen, auf welchem feindliche Munitionszüge standen. Der Zusammenhang war mir sofort klar, und ich verfehlte nicht, den englischen Offizieren bzw. Arzten klarzumachen, daß die deutschen Flieger selbstverständlich die Munitionszüge angegriffen und dabei leider aus Versehen das Lazarett getroffen hätten. Es wäre Sache der Engländer, entweder die Munitionszüge zu entfernen oder aber das Lazarett seitwärts der Bahn zu verlegen.

Der Transport über den Kanal erfolgte nach einigen Wochen auf einem Dampfer, dessen rote Kreuze mit grauen Farben übermalt waren. Der Dampfer wurde sowohl zum Verwundetentransport wie zum Transport von Truppen benutzt, denn als wir in Dover landeten, stan¬ den im Bahnhof am Pier bereits ganze Kolonnen Urlauber, die auf Einschiffung warteten.

Ein Jahr lang mußte ich mich in den verschiedenen englischen Gefangenenlazaretten, ein weiteres Jahr in den Gefangenenlagern aufhalten. Was bezüglich der Behandlung weiter oben gesagt wurde, gilt auch hier. Sie war streng korrekt, wenn auch nicht immer der Härte
entbehrend, solange Frontsoldaten das Kommando hatten. Sie ließ viel¬
fach zu wünschen übrig, und Unregelmäßigkeiten und Schikanen waren
an der Tagesordnung, wenn neu eintretende Soldaten ohne Front¬
erfahrung die entscheidenden Stellen inne hatten

Die ärztliche Versorgung in den Gefangenenlazaretten war vielfach ungenügend. Ich habe aber den Eindruck, als ob hier nicht Mangel an gutem Willen, sondern vielfach Rückständigkeit in der ärztlichen Wissenschaft und Organisation vorlag. Man darf schließlich nicht vergessen, daß für Großbritannien die gesamte Organisation, also auch die militärärztliche, bei Beginn des Krieges für ein großes Volksheer aus dem Boden zu stampfen war.

Zieht man die Erzählungen der Kameraden aus der französischen Gefangenschaft zum Vergleiche heran, dann darf man wohl sagen, ganzallgemein gefaßt, daß die Behandlung der Gefangenen in Frankreich viel schärfer und schikanöser gehandhabt wurde wie in England. Selbstverständlich blieben den Gefangenen in englischen Händen all die Leiden der Gefangenschaft nicht erspart. Trotz völliger Aussichtslosigkeit wurden in jedem Lager immer wieder Flucht= und Ausbruchsversuche unternommen. Soviel ich weiß, sind nur ganz wenige, ich glaube drei oder vier Deutsche, von den englischen Inseln in die Heimat gelangt. Selbst also, wenn der Ausbruch aus dem Lager glückte, war damit nicht das Fortkommen von der Insel gesichert. Wenn doch immer wieder derartige Versuche unternommen wurden, so geschah dieses in der ausgesprochenen Absicht, möglichst viel englische Truppen zur Bewachung der Gefangenen festzuhalten. Ganz schlimm wurden die Verhältnisse in den Gefangenenlagern, als nach Eintritt des Waffenstillstandes auch hier die Grippeepidemie ihren Einzug hielt. Die ärztliche Versorgung reichte nicht einmal für die englische Bevölkerung, geschweige denn für die Kriegsgefangenen aus! Viele Hunderte deutsche Kameraden haben bei dieser Gelegenheit und auch sonst aus Anlaß von Krankheiten und an den Folgen ihrer Verwundungen ihr Leben in englischen Lazaretten lassen müssen. Wir dürfen nicht vergessen, daß auch hinter den feindlichen Linien bzw. jenseits des Kanals Tausende und aber Tausende deutscher Kameraden liegen, die ihre Treue mit dem Tode bezahlten.“

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